Hier ein Bericht aus der Mitteldeutschen Zeitung über das derzeitig stattfindende Europatreffen in Leipzig.
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Große Menschen
Blickfang mit alltäglichen Hindernissen
Von Katrin Löwe
In der Fußgängerzone fallen sie immer auf: Extrem große Menschen leben nicht nur mit Blicken anderer, sondern auch mit alltäglichen Hindernissen.
Naumburg/MZ.
Mit 16 ist sie mit ihrem Vater einmal durch Warschau spaziert. Irgendwann, erzählt Evelyn Eichhorn, platzte ihrem alten Herrn der Kragen: „Ich nehme gleich den Hut und verlange Geld“ hat er gesagt - genervt von den unverhohlenen Blicken der Passanten. Eichhorn, heute 49 Jahre alt, stört sich an Blicken schon lange nicht mehr. „Man steht da irgendwann drüber“, sagt die Naumburgerin. Im wahrsten Sinne des Wortes: Sie ist 1,92 Meter groß - eine für Frauen ungewöhnliche Körperlänge, die sie schon mit 14 erreicht hatte.
Heute ist Eichhorn Vorsitzende des „Klubs der Großen“, der derzeit das Europatreffen von rund 250 überdurchschnittlich großen Menschen in Leipzig ausrichtet und dabei unter anderem Ausflüge nach Naumburg oder Freyburg unternommen hat. Der Klub ist das Ost-Pendant zum westdeutschen „Klub Langer Menschen“. Im Prinzip unterscheiden sich beide nur durch Aufnahmekriterien: Im Osten müssen Frauen mindestens 1,85, Männer 1,95 Meter groß sein, im Westen reichen 1,80 und 1,90 Meter.
Euphorische Amerikaner
Männersind in Deutschland laut Statistischem Bundesamt durchschnittlich 1,78 Meter groß, Frauen 1,65 Meter. Rund ein bis drei Prozent der Bevölkerung, schätzen die Klubs, liegen weit darüber. Was zum einen oft hinderlich ist, liefert zum anderen auch manche Anekdote. So erinnert sich der Hallenser Yves Missal an einen Besuch in New York. Mit seinen 2,20 Meter - er überragt beim Europatreffen alle - fiel er natürlich auch den Amerikanern auf. „Die waren plötzlich immens euphorisch, weil sie dachten, ich bin der neue Basketballstar“, sagt Missal und grinst.
Der 39-jährige Verwaltungsbeamte weiß manchen Vorteil seiner extremen Größe durchaus zu schätzen. „Bei Konzerten hat man einen schönen Überblick“, sagt er. Hinter ihm bildet sich dann immer ein menschenleerer Keil. An die leisen Beschwerden der Kollegen, die er im Supermarkt mal wieder übersehen hat, hat er sich gewöhnt. Sie sind zumindest körperlich einfach nicht auf Augenhöhe. „Ich blicke meistens über die Welt.“ Uwe Bestmann aus dem Raum Itzehoe (Schleswig-Holstein) erzählt unterdessen freimütig, täglich von seiner Größe zu profitieren. Er ist Landwirt - und vor einem 2,12-Meter-Mann haben selbst Kühe richtig Respekt.
Im Alltag warten bei den Großen allerdings auch jede Menge Herausforderungen. Missal zum Beispiel sucht auf Reisen Hotels nicht nach Sterne-Kategorie aus, sondern nur nach einem Gesichtspunkt. Wie groß sind die Betten, und sind sie am Fußende offen? Im Zweifel muss ein Doppelzimmer samt Doppelbett herhalten, in das er sich schräg legen kann. Auch ansonsten gilt: Einfach ist anders. Seine Türen zu Hause sind 2,11 Meter hoch - da vergisst er bei Ablenkungen schon mal, sich zu bücken. Das Bett, 2,40 Meter lang, war nur schwer zu finden. Gute Anzüge muss er sich schneidern lassen - da sind schwups 1600 Euro und mehr weg. Und für Alltagskleidung und Schuhe (Größe 54) gibt es in Deutschland nur eine Hand voll Händler - mittlerweile aber wenigstens auch Online-Shops.
Missals Maße
Dabei sind nicht einmal Missals Maße nötig, um beim Einkleiden vor Problemen zu stehen. Zwar richtet sich die Mode auf Mollige ein. In ganz Ostdeutschland gebe es aber keinen Laden für Frauenkleidung in Überlänge, sagt 1,92-Meter-Frau Evelyn Eichhorn. „Ich kaufe über Internet oder in Hamburg.“ Und nie Schuhe zum Discountpreis. In Damengröße 45 gibt es keine 20-Euro-Treter. Bleibt festzuhalten: Das Leben als Großer ist teuer. Staatliche Hilfe fehlt, weil Hochwuchs nicht als Behinderung gilt.
Groß sein ist zudem alles andere als rückenschonend. Bei öffentlichen Toiletten wird der Sitzwinkel extrem, zu Standard-Waschbecken müssen sich Betroffene herunterbeugen. „Über die Jahre und Jahrzehnte geht das auf den Rücken“, sagt Eichhorn. Dazu kommt für manche das ständige Bücken in Türen. Zwar sind die in Neubauten inzwischen oft 2,11 hoch - noch gibt es aber genügend kleinere. Grundsätzliches Problem, sagt Eichhorns Ehemann Andreas, selbst 2,06 Meter groß: Europäische Normen richten sich eher nach kleineren Südeuropäern. Den Großen fehlt Lobby. In Bus und Bahn sind Sitzabstände viel zu gering, in Flugzeugen muss man auf Plätze am Notausgang zählen.
Und beim Auto? Wird es auch schwierig. Missal, der selbst beim Fahrrad eine Sonderanfertigung hat, verflucht seine Größe, wenn Autohändler abwinken. Derzeit fährt er einen Golf Plus mit Sitzschienenverlängerung. Eichhorn unterdessen verblüfft mit der Geschichte, eine Weile den Smart seines Vaters gefahren zu sein. Geht nicht mit 2,06 Meter? Geht! „Der ist größer als er von außen aussieht“, sagt er. Nur seine Frau kriegte ihre langen Beine nicht unter.
„Winzige“ 2,02 Meter
Es sind auch Geschichten und Erfahrungen wie diese, die auf den Treffen der Klubs ausgetauscht werden. Und natürlich geht es um Spaß. Wenn etwa ein 2,02-Mann mit breitem Grinsen erzählt, dass er endlich ein Foto will, auf dem er klein wirkt: kein Problem! Zwischen 2,20 und 2,12 Meter großen Nachbarn sieht er tatsächlich irgendwie winzig aus. Weiterer, wenn auch nicht vorrangiger Effekt der Treffen: Unter „seinesgleichen“ hat schon mancher einen Partner gefunden. Auch Eichhorns haben sich im Klub kennen gelernt. Heute haben sie zwei Kinder, der Sohn 2,02 Meter groß, die Tochter mit zwölf schon 1,80 Meter (und prognostizierten 1,88).
Es gehört ein Stück Selbstbewusstsein dazu, mit überdurchschnittlicher Größe durchs Leben zu gehen, sagen Betroffene. Da sind die Lästereien, oft schon im Jugendalter. „Bei mir kamen sie meist von Erwachsenen“, so Eichhorn. Sprüche wie „Eh, wie ist die Luft da oben?“ oder „Eine lange Dürre wird kommen!“ hingen ihr schnell zum Hals raus. Manchem begegnet sie heute mit einer Extra-Portion Schneid - sechs Zentimeter hohen Stöckelschuhen zum Tanz etwa. Ihrem Mann gefällt’s. Und sie selbst sagt: „Na und? Die paar Zentimeter spielen auch keine Rolle.“