Die "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" oder doch behindert?

  • Ein freundliches Hallo an alle und ein Gutes Neues Jahr!


    Ich möchte (nicht als erster, ich weiß) mal mit der Frage "Behindert oder nicht" kommen. Und weil keiner von uns behindert genannt werden möchte, heißt das jetzt das die körperliche Funktion ...die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Wunderbar schwammig formuliert. Siehe SGB IX.


    Die ganze Geschichte: Mein Arbeitgeber hatte/musste mir letztlich ein dienstliches Flugticket zahlen. Einmal USA und zurück. Die Kollegin in der Economy für 1k€, ich in Premium Economy für knapp 3k€. Bei mir waren es 8 Sitze in einer Reihe, bei Ihr 10. In der Länge etwa die gleichen Verhältnisse. Alle anderen Komfortvorteile waren vernachlässigbar, auf jeden Fall nicht ansatzweise 2000€ wert. Kurz: Ich saß da mit genau der selben (relativen) Beinfreiheit wie meine Kollegin.


    Ich sehe diesen (unverschämten) Aufpreis als eine Benachteiligung im Sinne des Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Ich musste die Klasse ja wegen meiner Größe nehmen, nicht wegen einer zweiten Tasse Kaffee. Im AGG heisst es:


    Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, der Religion, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die

    • typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen oder
    • eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben,

    ist unzulässig.


    Hier kommt nicht die Behinderungsdefinition nach der Versorgungsmedizinverordnung zur Anwendung, sondern das oben genannte 9. Sozialgesetzbuch.


    Gab es schon Fälle in denen das AGG mit der Körpergröße angewendet wurde?



    P.S.: Ein Dank an meinen Arbeitgeber der das ohne zu Zucken gebucht hat!



    Mit sonnigen Grüßen,


    Ingo

  • Hallo Jürgen,


    danke für deine Antwort! Mir ist leider nur nicht klar welche Frage Du beantwortest.
    Ich würde Deine Antwort ausführlicher so schreiben/Interpretieren: "Großwuchs, im Sinne der Überschreitung des 97% Perzentils, allein rechtfertigt noch nicht die Annahme eines GdS."


    Mir geht es aber weder um einen Behindertenausweis, noch um einen Grad der Schädigungsfolgen. Mir geht es um gleichberechtigtes Leben / Teilhabe in der Gesellschaft. Das sehe ich auch als Ziel und Zweck des AGG. Und zur Anwendung des AGG braucht es eben KEINE Schwerbehinderung.


    Ich möchte daher die Frage wiederholen: "Gab es schon Fälle in denen das AGG mit der Körpergröße angewendet wurde?"


    P.S.: Die Begründung des GdB zum Großwuchs ist derart frei von Sachkenntnis, dass nicht glaube, dass das einer ernsthaften Überprüfung standhält. Ich sehe ein, dass nicht alle am unteren Ende des Hochwuchses (1,92m?) behindert sind. Aber z.B. ein 2,20m Mann ist das meiner Meinung nach sicher.


    Die Mitglieder verneinten dies im Hinblick darauf, daß der Großwüchsige sich – im Gegensatz zum Kleinwüchsigen – in jeder Situation selbst helfen und das ausgleichen könne, was der Großwuchs in bestimmten Situationen an Unbequemlichkeiten mit sich bringe. Großwüchsige Menschen kämen im übrigen in unserer Gesellschaft immer häufiger vor, so daß von der Umwelt – wiederum im Unterschied zu Kleinwüchsigen – keine negativen Reaktionen zu erwarten seien, die sich psychisch nachhaltig auswirken könnten....


    Per Definition sind 3% der Menschen großwüchsig. Auch wenn der Durchschnitt größer wird, werden die Großwüchsigen nicht mehr, es sind immer 3%.
    Und wie sich ein Mensch der in der Straßenbahn weder stehen noch sitzen kann selbst helfen könne um das auszugleichen weiß ich auch nicht. Soll er knien?


    Mit sonnigen Grüßen,


    Ingo

  • Ohne vom Fach zu sein, ich glaube das Problem liegt woanders.


    Bei privatrechtlichen Verträgen gilt der Grundsatz der Privatautonomie. Das heisst, dass im Grundsatz niemand gezwungen ist, mit einem anderen irgendwelche Geschäfte zu machen, wenn er das nicht will. Das wird offenbar durch das AGG eingegrenzt. Ich hab das jetzt nicht nachgelesen, sondern nehme nur das von Dir zitierte zur Grundlage.


    A ist 2,20 Meter groß und möchte gerne mit Fluggesellschaft B nach Amerika fliegen. B bietet Flüge nach Amerika für 1.000,- € in der Holzklasse an und für 3.000 € in der Luxusklasse. In der Holzklasse kann A gar nicht sitzen, in der Luxusklasse nur schlecht.
    Hat A einen Anspruch darauf, für 1.000,- € in der Luxusklasse zu fliegen oder gar einen extra XXL-Platz gebaut zu bekommen? Nein. Luxusklasse kann er für 3.000,- € buchen wie jeder andere auch. Holzklasse kann er auch buchen, auch wenn es ihm nix nützt. B bietet Flüge an und muß dabei gewisse Sicherheitsstandards einhalten. So muß jeder Fluggast einen Sitzplatz haben und sich anschnalle können. Das heisst aber nicht, dass B passende Sitzplätze für jede erdenkliche Körpergröße vorhalten muss.


    X ist gläubiger Moslem und isst aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch. In seinem kleinen Dorf gibt es nur einen Metzger Y und der schlachtet ausschließlich supergesunde Bioschweine, aber keine Rinder und kein Geflügel. Ist X jetzt durch Y irgendwie wegen seines Glaubens benachteiligt? Nein, er kann alles bei Y kaufen, was A, B und C dort auch kaufen können. Aber niemand kann den Schweinemetzger zwingen, auch Hühnchen zu schlachten. Ist auch naheliegend, sonst käme als nächstes Z an, der Veganer ist, und würde Y zwingen können, auch Gemüse zu verkaufen. Und ich würde dann einen Prozeß gegen Ferrari anstrengen, damit die endlich Autos bauen, in die auch bequem reinpasse.


    Anders sehe ich das ganze bei öffentlich rechtlicher Versorgung. Öffentlichen Nahverkehr gibt es als öffentliche Aufgabe, um eine Grundversorgung der Bevölkerung mit Mobilität sicherzustellen. Wenn A mit seinen 2,20 Metern nicht in den Bus passen würde, dann wäre da möglicherweise auf dem Rechtsweg was zu regeln. Das geht aber sicher nicht soweit, dass A auch Anspruch auf einen bequemen Sitzplatz hätte. Denn hier geht es nur um Grundversorgung. Der öffentlich - rechtliche Bereich ist aber halt grundsätzlich etwas anderes als der rein privatrechtliche Bereich, den das AGG zu meinen scheint.


    Das AGG scheint etwas anderes zu meinen. Nämlich, dass der Schweinemetzger Y nicht sagen darf "Dir verkaufe ich kein Schweinefleisch, weil Du Moslem bist, weil Du schwarz bist, weil Du behindert bist oder weil mir Deine 2,20 Meter nicht gefallen."


    In diesem Sinne.

  • Hallo Lange-Köln,


    danke für die Gedanken zum Thema.


    Die Frage was ein Gesetz meint ist selten einfach. Der erste Paragraph lautet: "Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen." Meiner Meinung nach trifft es das Problem schon.


    Die Leistung der Fluggesellschaft ist ja primär eine Beförderungsleistung im Massengeschäft, kein Produkt nach dem Wunsch den Käufers wie ein Schweineschnitzel. Kuwait Airways ist ja gerade mit großem Medienecho verklagt worden, weil sie keine Israelis mitnehmen. Da gibt es allerdings ein Kuwaitisches Gesetz, dass da explizit verbietet. D.h. sie hätten gegen ein eigenes Gesetz verstoßen müssen.


    Das BMVI schreibt: Fluggesellschaften und Reiseveranstalter dürfen sich bei Flügen von oder nach einem europäischen Flughafen grundsätzlich nicht aufgrund Ihrer Behinderung oder eingeschränkten Mobilität weigern, eine Buchung zu akzeptieren oder Ihre Beförderung durchzuführen. Das ist sicher auch einzuhalten wenn der Sitz in der Holzklasse nicht taugt.


    BTW: Ich habe die Frage auch an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes geschickt. Wenn da eine brauchbare Antwort kommt werde ich das hier berichten.


    Ingo

  • Update, ich habe eine Antwort vom Luftfahrt-Bundesamt:


    Eine bestimmte Körpergröße fällt nicht unter die Verordnung über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität. Hierzu kann das Luftfahrt-Bundesamt also keine weitere Aussage treffen.
    ...
    Wir empfehlen Ihnen, sich mit Ihrem Anliegen an den Verbraucherschutz zu wenden.

  • bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse


    Nur darum geht es. Ein Gesetz besteht aus Tatbestand und Rechtsfolge. Was da in der Präambel formuliert ist, ist nichts weiter als ein frommer Wunsch, der ggfs. Wirkung entfaltet, wenn es um die Auslegung der konkreten Vorschrift geht.


    Grundsatz Privatautonomie: Jeder ist frei, Geschäfte zu machen mit wem er will oder nicht, wenn er nicht will, egal warum.


    Der Diskothekenbetreiber darf sagen "Du kommst hier nicht rein, egal warum", oder auch "weil mir Dein Gesicht nicht gefällt."


    Das hier diskutierte Gesetz schränkt diesen Grundsatz ein. Der Diskobetreiber darf also nicht mehr sagen "Du kommst hier nicht rein, weil Du Katholik bist, oder weil Du im Rollstuhl sitzt."


    Wir haben also eine Einschränkung von Rechten die aber an ganz konkrete abschließend aufgezählte Voraussetzungen gebunden ist. Behinderung, Rasse, Religion usw.
    Wenn sich die eigene Benachteiligung nicht klar unter einen der Tabestände "Religion, Rasse etc." fassen lässt, kann ich auch keine Rechtsfolgen daraus für mich ableiten.


    Körpergröße gehört (bisher-kommt ja vielleicht noch) nicht dazu, also können wir daraus für uns keine Rechte ableiten, auch, wenn wir 2,50 messen.


    Die Lösung wäre vielleicht wirklich, sich ein entsprechendes Handicap durch die Größe als "Behinderung" eintragen zu lassen und das ggfs. duchzusetzen. Behinderung klingt immer negativ. Ist es ja an sich aber nicht. Jemand mit einem Bein kann schlecht laufen, ist also behindert. Jemand mit 2,20 Metern kann nicht auf jedem Platz sitzen, ist also in gewisser Weise auch behindert im Sinne von in seinen Möglichkeiten eingeschränkt.


    Mein Knie ist kaputt (Motorradunfall, Meniskus kaputt und vorderes Kreuzband ab). Ich kann ganz zufriedenstellend gehen, aber Joggen Sprinten etc. macht Schmerzen und rythmische Sportgymnastik wird wohl auch nix mehr. Ich bin also in einem gewissen Grad eingeschränkt. Ist aus meiner Sicht nicht schlimm, weil ich eh lieber Auto oder Motorrad fahre, als zu Fuß zu rennen und weil mich bei rythmischer Sportgymnastik eh keiner sehen will. Weil das alles (für mich) nicht tragisch ist, meine ich, ich brauche keinen Status der meine Behinderung gegenüber Nicht-Behinderten in irgendeiner Weise kompensiert.
    Ich bin glatte 2 Meter groß. Im Pauschal-Touri-Bomber nach Malle sitze ich nicht gut, aber ein paar Stunden gehts. Langstreckenflüge sind richtig besch... ist aber in 50 Jahren bisher nur 2 Mal vorgekommen. Geht alles.
    Das sieht mit 2,20 Metern sicher echt anders aus und wird mit jedem Cm mehr auch schlechter. Vielleicht wäre die Anerkennung bestimmter "Randkörperlängen" als Behinderung tatsächlich die Lösung der Probleme?